Rein vom Kern ihrer Struktur her werden OPCs als Flavonoide klassifiziert. Flavonoide, oder Bioflavonoide, bezeichnen eine Gruppe von pflanzlichen Verbindungen, die man an einer identischen Struktur im Zentrum des Moleküls erkennt: dem Flavankern. Flavus heißt Gelb und der „Flav-”Begriff kam in Gebrauch, weil die frühe Forschung mit gelben Pigmenten befasst war. Später wurden viele nicht-gelbe Substanzen ermittelt, die einen Flavankern enthalten. Und doch wurde der Begriff Bioflavonoide weiterhin benutzt und verwirrte Generationen von Wissenschaftlern. Auch wenn man eine chemische Ähnlichkeit erkennt, verschwinden dadurch die vielen wesentlichen Unterschiede zwischen Flavonoiden und OPCs noch lange nicht. Eine Untergruppe der Flavonoide sind die Flavanole. OPCs gehören in die Flavanol-Untergruppe.
Nicht nur sind viele Bioflavonoide nicht gelb, sondern eine Klassifizierung auf der Basis chemischer Kernstruktur ist im Bereich der Gesundheit und Ernährung keine große Hilfe, weil die Spannbreite der Gruppe von bioflavonoiden Pflanzenverbindungen extrem weit ist. Von einem biologischen, medizinischen und Ernährungsstandpunkt aus können die verschiedenen individuellen Bioflavonoide durchaus substanziell unterschiedliche Eigenschaften aufweisen, wie etwa hinsichtlich ihrer Absorption und biologischen Wirkungen. Aus diesem Grund war Masquelier im Laufe seiner Forschung zunehmend überzeugt, dass die Flavanole nicht länger als eine Untergruppe der Flavonoide betrachtet werden sollten, sondern vielmehr als eine eigenständige, den Flavonoiden gleichgestellte Klasse
Flavanol-Cluster
Diese Gruppe von Flavanolverbindungen umfasst einzelne Flavanole ebenso wie Gruppen von zwei, drei oder mehr flavanolen Einheiten. In der Natur sind einige Flavanoleinheiten dazu bestimmt, einzeln zu bleiben. Diese „Junggesellen”-Flavanole heißen Katechine. Katechine bleiben zeitlebens allein. Das Katechin hat ein spiegelbildliches Flavanol namens Epikatechin. Der Unterschied zwischen ihnen ist wie der Unterschied zwischen der linken und der rechten Hand. Sowohl das Katechin als auch das Epikatechin sind einzelne Flavanole. Beide Katechinformen bleiben „Junggesellen”. Wie aber kann es dann Gruppen von zwei, drei, vier oder mehr „Junggesellen” geben? Um dies verstehen, muss man im Entstehungsprozess von Flavanolen in Pflanzen einen Schritt zurückgehen. Bevor es ein Katechin gibt, gibt es ein „Fast-Katechin”, genannt Carbokation. Auf dem Weg vom Carbokation zum Katechin befindet sich eine Gabelung mit einem Zeichen, das in die Richtung der Proanthocyanidine zeigt. Ist einmal die Entscheidung zwischen links oder rechts getroffen, gibt es keinen Weg mehr zurück. Ein Carbokation, das Richtung Katechin geht, bleibt unwiderruflich einzeln. Ein Carbokation, das Richtung Proanthocyanidin geht, wird unwiderruflich in einer Katechin-Ehe landen. Interessanterweise verhalten sich Katechine (Proanthocyanidine) paarweise anders als einzeln. Paarweise verhalten sie sich als Proanthocyanidine. Katechine unterscheiden sich von Proanthocyanidinen genug, um einen anderen Namen zu rechtfertigen. Es bleibt die spannende Frage: Gibt es auf dem Weg in die Ehe ein einzelnes „monomerisches” Proanthocyanidin, ein Flavanolmonomer, das sich nicht wie ein Katechin, sondern wie ein Procyanidin verhält.
Die Procyanidine
Kennt die Natur einzelne Proanthocyanidine? Ja, aber ihre Existenz ist insofern etwas theoretisch, als ein einzelnes Proanthocyanidin nur schwer zu isolieren ist. Theoretisch ist ein einzelnes Proanthocyanidin ein Flavanol, und seine Struktur ist dem eines einzelnen Flavanols namens Katechin und Epikatechin ähnlich, wenn auch nicht identisch. Wie die multiplen Proanthocyanidine verhalten sich die einzelnen wie echte Proanthocyanidine. Der hauptsächliche und sichtbarste Unterschied ist, dass die Proanthocyanidine insofern keine Katechine sind, als ein Katechin unter der Bate-Smith-Reaktion kein rotes Anthocyan bildet, während alle Proanthocyanidine dies tun. Man kann Katechine tagelang in einer Säurelösung erhitzen, ohne dass sie sich rot färben. Bis zum heutigen Tag gibt es über diesen Punkt Unklarheit, weil die so überreichlich in der Natur gefundenen Proanthocyanidine Gruppen (Paare, Dreier-, Vierergruppen usw.)von Katechinen und Epikatechinen sind.
Einzelne Proanthocyanidine findet man kaum in der Natur, da sie, sobald sie existieren, ein anderes Proanthocyanidin finden, mit dem sie eine Ehe eingehen. Einmal verheiratet, finden sie ein weiteres Proanthocyanidin, das sie heiraten, und so bilden die Proanthocyanidine immer größere proanthocyanidolische Gruppen. Diese Gruppen bestehen paradoxerweise aus Katechinen, aber diese Katechine sprechen nicht für sich selbst als Individuen. Sie können sich nur als Proanthocyanidine ausdrücken, in fester Bindung sozusagen. Die Bindung ist ein Prozess, den Masquelier 1948 beschrieb, als er beobachtete, wie aus Chromogen Tannine hervorgingen. Viele Jahre später erkannte Masquelier, dass er die Bildung von Proanthocyanidinen beobachtet hatte.
Einzelne oder oligomere Flavanole
Welcher Prozess in der Natur entscheidet, ob das Carbokation, der den Katechinen und Proanthocyanidinen gemeinsame Vorläufer, „single” bleibt und ein Katechin wird oder ob es zu einem einzelnen Proanthocyanidin wird, das ein weiteres Proanthocyanidin heiratet und Gruppen von Oligomeren (nur wenige Einheiten) und Polymeren (viele Einheiten) bildet? Masquelier und seine Kollegen haben versucht, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, weil sie wissen wollten, ob sie OPCs im Labor synthetisieren können. Viele Versuche wurden gemacht, aber man fand heraus, dass Proanthocyanidine im Labor nicht stabil hergestellt werden können, was bedeutet, dass OPCs nicht synthetisch herzustellen sind. OPCs können nur aus Pflanzenstoffen gewonnen werden. Dies ist ein wichtiger Aspekt von OPCs, weil viele der in heutiger Nahrung und in Nahrungsergänzungsmitteln enthaltenen Pflanzen- und Mikronährstoffe synthetisch hergestellt sind. Praktisch sind alle kommerziell erhältlichen Vitamine synthetisch. Sogar Substanzen wie das Koenzym Q10 werden nicht extrahiert, sondern fermentiert. Im Gegensatz dazu sind OPCs echt pflanzlich, weil sie immer aus Pflanzenstoffen gewonnen werden.
Ob ein Carbokation zu einem einzelnen „Anlasser-Proanthocyanidin” wird, hängt vom Vorhandensein eines gewissen Enzyms ab. Wenn eine katechinhaltige Pflanze zugleich dieses Enzym enthält, zeigt es eine ausgeprägte Neigung zur Flavanolkondensation und stellt OPCs und die größeren „polymerisierten” Katechingruppen, die Tannine, her. Bis zu diesem Punkt entscheidet allein die Natur über die Enzymzusammensetzung der Pflanze. Neuere Studien weisen darauf hin, dass man anscheinend die Neigung der Pflanze zur Procyanidinbildung beeinflussen kann, indem man in Pflanzen, denen OPCs und Tannine fehlen, Enzyme „hineinkonstruiert”. Der Anlass für diese Forschung wird die meisten Leser wahrscheinlich nicht interessieren, da er hauptsächlich die Verhinderung von „Weideblähungen” bei Rindern betrifft. Laut den Gentechnikern erhöhen Tannine die Proteinmenge, die das Tier verlässt, und vermindern so die von Proteinen verursachten Blähungen. Dieser Forschungszweig berührt eine weitere, sehr wichtige Unterscheidung, die wir treffen müssen: die zwischen OPCs und Tanninen.
OPCs und Tannine
Als letzten Schritt bei der Abgrenzung von OPCs müssen wir festlegen, an welchem Punkt im Bindungsprozess die Proanthocyanidine sich von wertvollen Pflanzennährstoffen (OPCs) in für die Ernährung nutzlose Tannine verwandeln. Für diese abschließende Unterscheidung muss ich Sie ein paar Schritte weiter in den Ablauf der Kondensation oder Polymerisation führen. Das lateinische Wort merus oder altgriechische meros bedeutet „Teil”. Wenn identische Teile Paare, Dreier-, Vierer-, größere Gruppen oder sogar Ketten bilden, heißt dieser Vorgang Polymerisation, wobei poly für „viele” steht. Plastik ist ein gebräuchliches Haushaltsbeispiel für solche Polymere, da Plastik das Ergebnis von Polymerisation ist. Kleinere Gruppen, die nur aus wenigen identischen Teilen bestehen, heißen Oligomere im Altgriechischen bedeutet oligo „wenige”. Der einzelne Teil heißt Monomer, mono bedeutet „einzeln” oder „eins”. Wir können nun die verschiedenen proanthocyanidolischen Verbindungen mittels der Wörter Polymere, Oligomere und Monomere unterscheiden. Das einzelne Proanthocyanidin (die Anfangseinheit) ist ein monomeres Proanthocyanidin. Zwei verbundene Flavan-3-ol-Teile stellen ein „Dimer” dar. Bei drei verbundenen Flavan-3-ol Teilen spricht man von „Trimeren”, vier stellen ein „Tetramer” und fünf ein „Pentamer” dar. Alle aus zwei, drei, vier und fünf Einheiten bestehenden Proanthocyanidine sind die oligomeren Procyanidine. Zur Vereinfachung dieser komplizierten Terminologie sprachen Masquelier und sein Team in den 1960ern von OPCs. Laut Masquelier gehören Gruppen von sechs oder mehr Einheiten zu den Polymeren oder Tanninen. Man könnte sie PPCs nennen. Wie in OPCs, Dr. Jack Masquelier’s Geschenk an Ihre Gesundheit erklärt wird, haben nur OPCs und Katechine einen Nährwert. Nur OPCs und Katechine sind Pflanzennährstoffe. Verglichen mit Katechinen sind OPCs der mit Abstand überlegene Phytonährstoff. PPCs oder Tannine gelten als Antinährstoffe, weil sie der Verdauung und Absorption von Proteinen entgegenstehen. In der Forschung und in der Industrie wurde heftig diskutiert, ob der Begriff oligo wirklich bei fünf Einheiten aufhört oder bis auf Verbindungen von zehn Einheiten (Dekameren) ausgedehnt werden kann, um so die Verdienste von OPCs auch auf wertlose Produkte zu erstrecken. Da diese Diskussionen oft eher auf kommerziellen denn auf wissenschaftlichen Grundlagen ausgefochten werden, ist The American Heritage Dictionary of the English Language wahrscheinlich die beste Autorität, um diese Frage zu lösen. In seiner dritten Ausgabe (Third Edition) ist ein Oligomer definiert als ein „Polymer, das aus zwei, drei oder vier Monomeren besteht”. Laut den Autoren dieses maßgebenden Wörterbuchs, die sogar noch strenger sind als der OPC-Entdecker, sind die prozyanidolischen Pentamere (fünf Einheiten) und größeren Polymere nicht OPCs, sondern PPCs oder Tannine.
Katechine, OPCs und Tannine
Masquelier erklärte diese Chemie immer mithilfe eines einfachen Vergleichs. Er stellt die Katechine als die Ziegelsteine dar, mit denen man ein Haus baut. In ihrem Katechin-Zustand bleiben die Steine einzelne Elemente, mit denen wir kein Haus bauen können. Der Maurer braucht Mörtel, um die Steine miteinander zu verbinden. Die Enzyme, die die Bildung einzelner Anlasser-Proanthocyanidine beeinflussen können, sind wie die Maurer, die zwischen die Ziegelsteine Mörtel geben. Wurde erst einmal eine Anlasser-Einheit geschaffen, geschieht das Mauern fast automatisch, weil die Einheiten sich spontan zu Gruppen zusammenfügen. Ohne die Enzyme (Maurer) finden wir nur Katechin-Steine, die als einzelne Elemente übrig bleiben und nicht zum Bau von OPCs (Haus) genutzt werden können. In Pflanzen, denen diese „mauernden” Enzyme fehlen, finden wir vielleicht Katechine, aber wir werden keine OPCs vorfinden. In Pflanzen, die diese Enzyme enthalten, finden wir Katechine und OPCs. Dies ist der Grund, warum Masqueliers OPCs-Produkte immer eine gewisse Menge an einzelnen Katechinen (Ziegelsteinen) enthalten, die im Herstellungsprozess natürlicherweise mit OPCs einhergehen.
In diesem prozyanidolischen Zusammenhang gibt es einen weitverbreiteten, hartnäckigen, wenngleich falschen Gebrauch des Begriffs „Monomer”. Per definitionem ist ein Monomer ein Molekül, das sich mit anderen identischen Molekülen zu einem Polymer verbinden kann. Ein Katechin ist kein Monomer, weil einem Katechin die Eigenschaft fehlt, sich mit anderen Katechinen zu Oligomeren von Proanthocyanidinen zu verbinden. Das echte Proanthocyanidin- Monomer ist das einzelne Anlasser-Proanthocyanidin, das unter dem Einfluss von Enzymen aus dem Carbokation hervorgeht. Proanthocyanidin-Monomere sind so selten, dass man ohne Risiko behaupten kann, dass kein Produkt sie enthält. Im Kontext der Produkte, die Proanthocyanidine enthalten, ist es ein Fehler, von Monomeren zu sprechen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich selbst habe den Fehler gemacht, als ich davon ausging, dass Katechine die Monomere von Proanthocyanidinen sind. Es gibt Katechine und Epikatechine. Es gibt oligomere (OPCs) und polymere (Tannine) Proanthocyanidine. Die Monomere existieren nur in der Theorie. Sie werden sie in keinem einzigen kommerziell zu erwerbenden Produkt vorfinden. Produktangaben, die „Monomere” erwähnen, sind nicht korrekt.
In vielen Forschungsjahren entwickelten Masquelier und seine Kollegen ein immer klareres Verständnis all dieser Substanzen. Doch das Problem blieb bestehen: Die wissenschaftliche Gemeinschaft löste nie ganz die Verwirrung auf, die durch die falsche Einordnung der Flavanole als Mitglieder der großen Familie der Bioflavonoide verursacht war, obwohl die beiden Gruppen wegen der großen Unterschiede entschieden als jeweils eigenständige Familie klassifiziert gehört hätten. Bis zum heutigen Tag spukt diese Verwirrung durch wissenschaftliche Artikel, ebenso wie auf Etiketten vieler Kräuterarzneien und Nahrungsergänzungsmittel.